Der Rosenmontagseisregen 1987 in Ostwestfalen - Reanalyse und Bildimpressionen

Am Rosenmontag 1987 kam es in Ostwestfalen-Lippe zu starkem Eisregen. Hinsichtlich der Entstehungsbedingungen, Intensität, Dauer, aber auch der Auswirkungen auf das zivile Leben ist diese Wetterkapriole für die Region als Jahrhundertereignis einzustufen, vergleichbar etwa mit dem Wintereinbruch Sylvester 1978. Selbst die ältesten Mitbürger konnten sich an nichts Vergleichbares erinnern.

Bereits in den frühen Morgenstunden hatte bei Minustemperaturen und gefrorenem Boden Regen eingesetzt, der in kurzer Zeit alles mit einer teils mehr als 1 cm dicken Eisschicht überzog. Die Niederschläge setzten sich über Stunden fort und gingen gegen Abend in Schnee über. Nicht die Menschen verkleideten sich, sondern die Natur - ein Karneval der ganz besonderen Art.

Abb1. Dickes Eis auf Zweigen
Die Folgen für die Natur waren verheerend. Mein Fußweg zur Arbeit führte mich an einer Pappelreihe entlang, aus der etwa im Minutenabstand Äste ausbrachen und mit krachendem Lärm zu Boden gingen. Neben der Pappel mit ihrem tückisch brüchigen, schnell gewachsenen Holz waren auch andere Baumarten stark betroffen, allen voran die Birke, bei der 24m Zweiglänge auf einen Meter Ast kommen. Man hat errechnet, dass einige Bäume das 85-Fache ihres Normalgewichtes an Eislast trugen. Viele Bäume kippten unter mäßigem Windeinfluss einfach um und rissen durch eine Art Dominoeffekt ihre Nachbarn mit. Im Durbeketal bei Altenbeken wurde auf diese Weise ein über 130 Jahre alter Laubwaldbestand auf einer Fläche von 4ha komplett vernichtet. 35000 Festmeter Holz, das sind 90% eines Jahreseinschlags, fielen diesem Eisregen zum Opfer. Mit Seil- und Kranwinden aus Österreich wurden die Baumriesen später an Trossen schwebend aus dem Wald geborgen.
Abb2. Abgeknickter Hochspannungsmast bei Hövelhof
Nicht besser erging es einigen Hochspannungsmasten. Im Raum Hövelhof brachen einige zusammen, und es kam den ganzen Tag über zu Stromausfällen. Hilfsmannschaften rückten mit Notstromaggregaten aus und versuchten unter extrem widrigen Bedingungen, der Lage Herr zu werden. Man denke auch an Glätte, die gleichzeitige Nässe und das Unbrauchbarwerden eines jeden Werkzeugs, wenn es sich im Freien mit Eis überzieht. Um überhaupt schweres Gerät einsetzen zu können, mussten Bohlen durch die Felder verlegt werden. Ein Lokomotivführer harrte 15 Stunden in der Egge aus, bis seine Strecke wieder befahrbar war. Die Elektroloks, die an diesem Tage noch fuhren, zogen an ihren Stromabnehmern gleißenden Blitze hinter sich her.

Bemerkenswert war auch die Hilfsbereitschaft und der Zusammenhalt der Menschen vor Ort - stets auch ein Indiz für die Außergewöhnlichkeit einer Gefahrensituation. Landwirte nahmen zig verdreckte, durchnässte und erschöpfte Männer auf und verpflegten sie. Gastwirte spendierten Erbsensuppe und ein Metzger servierte Koteletts und Stullen.

Abb3. Im Stadtgebiet Paderborns
Ein Wort zum Straßenverkehr, der selbstverständlich verbreitet zum Erliegen kam, an sich nichts Besonderes. Das eigentliche Problem war aber noch ein ganz anderes. Meinen Wagen hatte ich morgens vorsorglich daheim stehen lassen. Es lässt sich bei einem Eispanzer von 1 cm nicht nur kein Schloss bedienen, sondern schlicht und ergreifend auch keine Tür mehr öffnen, wenn die Türspalte bis aufs Gummi mit Eis ausgefüllt sind. Anderen erging es noch schlimmer, wenn sie aus der trockenen Garage losfuhren und ihre Autos im Freien abstellten. Da es mit Minustemperaturen weiterging, standen einige dieser Autos noch Wochen später auf den Parkplätzen in dickes Eis eingepanzert. Geradezu mitleiderregend waren aber diejenigen, die etwas wichtiges im Fahrzeug liegen ließen oder denen einfiel, dass sie das Licht nicht ausgeschaltet hatten und dann tatenlos zusehen mussten, wie langsam die Batterie tiefentlädt. Den orangefarbenen Passat links im Bild prügelte ich einige Tage später mit einem Holzhammer wieder frei.

Die synoptische Situation

Beim Blick auf die Stationsmeldungen jenes 2. März 1987 springt sofort die Zweiteilung Deutschlands hinsichtlich der Bodentemperaturen ins Auge. Einem milden Südwesten steht ein eiskalter Nordosten gegenüber. Der Temperaturgradient war extrem, etwa 20K auf 600km.

Abb4. Temperaturgradient in D
Die Mitternachtskarte 00z deutet die Grundsystematik bereits an. Ein spitzer Bodentrog mit Tiefkern bei den britischen Inseln transportiert maritime Subtropikluft (mS) aus Südwesten heran, während bodennah aus Nordost kontinentale Artikluft (cA) advehiert worden ist. Deutschland liegt genau im Überlappungsbereich dieser beiden Luftmassen.
Abb5. Synoptische Ausgangssituation
Zur Mittagszeit 12z liegt das Tiefzentrum bereits direkt über Holland, und das Unwetter ist in vollem Gange. Der richtige Zeitpunkt für weitere Betrachtungen.
Abb6. Synoptische Ausgangssituation

Radiosondenaufstiege

Für OWL selbst liegen keine Sondenaufstiege vor. Die Lage kann also nur großräumig analysiert wird.

Abb7. Skew-T-Diagramm Essen
Im Westen (Essen) ist die milde Luft bereits angekommen. Am Boden feucht bei fast 10 Grad und in allen Höhen westliche Winde. Frostgrenze bei ca. 1500m, entsprechend 800hPa.
Abb8. Skew-T-Diagramm Bergen
Ganz anders Bergen in der Lüneburger Heide. Hier dominieren bodennah Ostwinde mit Temperaturwerten bei -8 Grad, während in der Höhe die milde Luft aus West darüber strömt. An der Grenze eine Inversion mit Temperaturanstieg auf -2 Grad in ca. 1300m Meereshöhe, entsprechend 850hPa.
Abb9. Skew-T-Diagramm Schleswig
Besonders eindrucksvoll zeigt Schleswig den bodennahen, noch trockenen Kaltlufteinschub, der hier eine höhere vertikale Mächtigkeit als über Bergen aufweist. Der große Spread schließt sich erst bei etwa 750hPa. Darüber aber auch hier schon wärmere Luft.

Entstehungsbedingungen von Eisregen

Zu Eisregen kommt es, wenn sich Schnee in der Höhe bildet, durch eine Luftschicht mit Plusgraden fällt, dabei taut und darunter in einer Luftschicht unter Null Grad wieder abkühlt ohne zu gefrieren.

Die Sondenaufstiege und das beobachtete Wetter zeigen, dass eine solche Schichtung in OWL bestanden haben kann bzw. muss. Geht man von der Schichtung über Essen aus, dann wird rasch klar, wie das funktioniert hat. Der Niederschlag durchstieß hier in etwa 1500m die Nullgradgrenze und war in spätestens 1100m zu Regen geworden. Schiebt sich nun eine Kaltluftzunge darunter, ist die beschriebene Schichtung gegeben. Die Gefahr dafür steigt angesichts des nahen Miteinanders von Trocken-Kalt und Feucht-Warm mit jedem Kilometer ostwärts. In OWL waren anscheinend alle Zutaten in perfekter Proportion gegeben, und sie blieben für viele Stunden bestehen. Die Temperaturkarten in der Höhen bestätigen die Hypothese.

Abb10. Kelvin-Temperatur in 500hPa-Höhe
Deutlich zu sehen, wie die Warmluftzunge (250K-Linie) in der Höhe über ganz Deutschland liegt. Das Holland-Tief hat sie im Bogen bis nach Südnorwegen gelenkt.
Abb11. Kelvin-Temperatur in 850hPa-Höhe
Abb12. Kelvin-Temperatur in 925hPa-Höhe
Abb13. Kelvin-Temperatur in 1000hPa-Höhe
In den tieferen Schichten zeigt sich das angesprochene Temperaturgefälle von Südwest nach Nordost. Die Nullgradgrenze am Boden (letzte Karte) ist tendentiell richtig getroffen, aber etwas zu weit östlich verzeichnet. Die räumliche Auflösung war für eine genauere Wiedergabe nicht ausreichend. Ebenfalls aufschlussreich ist die relative Luftfeuchtigkeit RH der verschiedenen Luftschichten. Beginnen wir am Boden (1000 hPa):
Abb14. Relative Feuchte in 1000hPa-Höhe
Bodennah ist Deutschland im Wesentlichen nass. Angesichts verbreiteter Niederschläge braucht das nicht zu verwundern. Tatsächlich liegt ein Schwerpunkt genau im Gebiet OWL. Im Skagerrak hat sich eine Blase trockener Luft noch halten können.
Abb15. Relative Feuchte in 925hPa-Höhe
In 925hPa-Höhe deutet sich ein Trockenlufteinschub an, der in dieser Höhe von Skandinavien im Bogen bis weit nach Polen hinein reicht. Sehr markant der scharfe Gradient etwa entlang der Elbe. In 850hP-Höhe deutlicher ausgeprägt...
Abb16. Relative Feuchte in 850hPa-Höhe
... und in 500hPa-Höhe mit einem abgeschnürten Trockenkörper, der bis fast ans Schwarze Meer heranreicht.
Abb17. Relative Feuchte in 500hPa-Höhe

Woher kam das Tief und wohin ging es?

Man mag sich fragen, wie sich so ein Tief bilden und vor allem wie es in den Hochdruckrücken über Frankreich/Benelux (00z) hineinwandern konnte. Einen Anhaltspunkt liefern die Höhenwinde 300hPa.
Abb18. Jetstream in 300hPa-Höhe
Wieder einmal ist es der Jetstream, der hier vom Ostatlantik bis hinein nach Frankreich verläuft. Die vertiefende Zyklone bewegt sich entlang seiner Nordflanke im Bereich des Left-Exit, der Zyklogenesen begünstigt. Der schroffe Gegensatz zwischen Trocken-Kalt und Feucht-Warm aktiviert im weiteren Verlauf zusätzlichen Nährboden. Tatsächlich findet sich nur 12 Stunden später die ehemalige Holland-Zyklone vereinigt mit dem nun erstarkten Adria-Tief wieder, das dort eine mustergültige Bora entfacht haben dürfte:
Abb19. 12 Stunden später

Wie es in Deutschland weiterging

Die Warmluft konnte sich nicht nachhaltig in Deutschland durchsetzen. Der Frost verschärfte sich wieder durch Zustrom kontinentaler Luftmassen aus östlichen und nördlichen Richtungen.

Abb20. Lage am 6. März
Es sollte noch bis zum 18. März dauern, bis beispielsweise Hannover endlich wieder eine frostfreie Nacht erleben sollte.
Abb21. Lage am 18. März
Auch der Eispanzer in OWL blieb noch etwa zwei Wochen, einer der Faktoren für den Seltenheitswert dieses Ereignisses.

Bildimpressionen

Zum Schluss noch ein paar eindrückliche Bilder.

Abb22. Haselkätzchen in Eis
Abb23. Haselkätzchen in Eis
Was wie Zuckerguss aussieht, ist für nahrungsuchende Tiere alles andere als Zuckerschlecken. Der Ausdruck "zentimeterdickes Eis" ist nicht übertrieben.
Abb24.
Abb25.
Der Trauerbuche ging es ganz gut; sie lässt auch im Sommer die Fittiche hängen und ist das von daher gewohnt.
Abb26.
Anders die Zeder im Vorgarten. Sie musste zahlreiche Äste lassen. Es hat ihr nicht geschadet. Sie wuchs zu einem Giganten von Baum heran und wurde 2007 gefällt.
Abb27.
Wahrlich ein Abenteuer, diese Treppe hinaufzukommen...
Abb28.